Anzug nach Maß oder von der Stange?
Man(n) trägt wieder Anzug. Und das inzwischen nicht nur im Büro. Während am eher konservativen Arbeitsplatz die dunkelgraue Business-uniform immer klassischer und schlichter wird und die Auswahl der richtigen Krawatte das Einzige ist, womit der Träger noch ein wenig Individualität beweisen kann, ist der Anzug auch im Alltagsleben wieder häufiger anzutreffen. Eigenartigerweise kann man sagen: je weniger festlich er getragen wird, desto alltagstauglicher wird er. Und so ist man mit einem dunklen Anzug zum offenen weißen Hemd inzwischen modisch fast unfehlbar: Ob in Nobelrestaurant, Bar oder im Kino, er wirkt elegant, vielleicht auch deutlich mehr als nötig, aber nicht ernsthaft übertrieben. Glauben Sie nicht? Dann gehen Sie mal wieder abends in eine Cocktailbar im Stadtzentrum. Natürlich kann man da im Kapuzen-Sweater auflaufen. Muss man aber nicht. Und immer mehr Menschen tun es auch nicht. Ein kurioser Trend: mit dem Siegeszug des Business Casual gehen die Massen zwar immer lässiger ins Büro, werfen sich dafür aber nach Feierabend gerne ein wenig in Schale. Es muss ja nicht immer gleich das volle Programm mit Einstecktuch und Manschettenknöpfen sein.
Das führt aber zu einer Anforderung an den Anzug: er muss passen, sitzen und der Herausforderung gewachsen sein. Machen wir uns nichts vor: der durchschnittliche Sparkassen-Kundenberater wird nur äußerst selten auf ein Gegenüber treffen, das den Schnitt oder die Preisklasse seines Anzugs beurteilen kann. Und wenn – es ist doch nur Arbeitskleidung, und das Ziel heißt: nur nicht auffallen. Auch beim Vorstellungsgespräch kann ein allzu edler Maßanzug im ungünstigsten Fall als Zeichen von übertriebener Eitelkeit aufgefasst werden (Auf Vorstandsebene sieht das Ganze schon wieder anders aus. Aber wer sich dort bewirbt, braucht selten noch detaillierte modische Ratschläge).
Wer hingegen in der Freizeit zum edlen Zwirn greift, will nicht in der Masse untergehen. Er will glänzen, vielleicht sogar ein wenig auffallen. Wer hier nun zum Designerstück mit überdimensioniertem Markennamen auf der Brusttasche und dezentem Herstellerlogo im Stoff greift, fällt definitiv auf – aber nicht gerade positiv. Beim Anzug ist weniger mehr und Understatement das Gebot der Stunde. Wer sich im günstigen Bereich bewegen will, sucht ein solides Modell von der Stange im Kaufhaus - aber nicht zu knapp sitzend – und trägt es zum Änderungsschneider seines Vertrauens. Was? Das macht man heute nicht mehr? Eben doch. Auch wenn man teilweise Menschen sieht, die aus bloßem Unverständnis mit ungesäumten Hosenbeinen herumlaufen und sich dabei noch über die zu große Länge und die schlechte Verarbeitung der Abschlussnaht aufregen. Dabei ist eine ungesäumte Hose ab einer gewissen Qualitätsstufe durchaus üblich. Nämlich damit der Schneider die Hose ohne Probleme exakt auf die gewünschte Länge bringen kann.
Natürlich, die höheren Weihen des Anzugs liegen eher im Bereich der Maßanfertigung. Doch selbst wenn man nicht unbedingt Wert darauf legt, dass das gute Stück von Brioni oder Gieves & Hawkes stammt, ist das ein teures Vergnügen. Es ist der pure Luxus, in Ruhe mit dem Schneider durchzusprechen, um was für Stoffe es geht, wie der Schnitt sein soll und was Sie von einem Anzug erwarten. Das Vermessen ist ein eigenes Ritual. Aber sie müssen sich darüber im Klaren sein: neben einer größeren Geldsumme wird Sie ein solcher Anzug auch die Zeit für mindestens zwei bis drei Anproben kosten. Dafür sieht man aber sofort, dass Ihnen der Anzug auf den Leib geschneidert wurde.
Alternativ ist eine Alternative im Kommen, die die Vorteile beider Ansätze miteinander verbindet: die Maßkonfektion. Auch viele alteingesessene Herrenausstatter sind auf diesen Zug aufgesprungen. Bei Maßkonfektion wird ein im Prinzip vorkonfektionierter Anzug individuell auf die Maße des Kunden angepasst. Das Ergebnis ist ein Anzug, der fast wie maßgeschneidert sitzt. Gerade Menschen, die eher Schwierigkeiten haben, im Standardsortiment der Kaufhausketten etwas zu finden, greifen oft zu dieser Variante. Der Kunde wird zunächst noch klassisch vermessen. Danach lassen die meisten Anbieter den Anzug extern fertigen. Bei der Endanprobe wird dann noch die eine oder andere Korrektur gemacht. Das hat zwar immer noch seinen Preis, kostet aber kein Vermögen mehr.
Günstiger, aber auch risikoreicher, ist die Bestellung im Internet. Die Anbieter für Online-Maßkonfektion schießen in letzter Zeit nur so aus dem Boden. Sie sind meist drastisch günstiger als ihre niedergelassenen Pendants. Und rein von der Erlebnisqualität her ist es natürlich etwas völlig anderes, sich online in einem Design-Applet einen Anzug zu entwerfen, als im Laden auf ein paar Stoffmuster zu starren. Das Grundprinzip ist einfach: Maße eingeben und fertig. Und gerade hier lauert die große Gefahr. Der Grund für die häufigen Klagen über ungenaue Passformen ist hier oft genug das fehlerhafte Messen. Gute Anbieter geben hierzu oft eine Hilfestellung in Form von Bildern oder Videos. Aber es gibt noch eine Variante: Gehen Sie zum Änderungsschneider. Ja genau, der, bei dem Sie ihre Hosen kürzen lassen. Im Gegensatz zu Ihnen ist der nämlich mit Maßband und Stecknadel vertraut und wird sie, vermutlich gegen eine kleine Gebühr, gerne exakt vermessen. Diese Maße nehmen Sie dann zum Bestellen, und schon haben Sie die Gefahr eines Fehlschlags signifikant verringert.
Der Nachteil ist natürlich: Sie sehen keine Stoffe oder Verarbeitungsproben vorab. Selbst wenn ein Anbieter Ihnen eine Stoffprobe sendet: wer garantiert Ihnen denn, dass Ihr Anzug auch tatsächlich aus dem selben Material gefertigt wird? Reklamation oder gar Rückgabe sind bei Maßanfertigungen immer etwas erschwert. In sofern geht es bei jeder Art von Maßanpassung – ob beim Änderungsschneider, beim Maßkonfektionär, online oder beim Edel-Schneider – letztendlich um eines: Vertrauen. Fehlt das, kaufen Sie besser woanders.