Der Cardigan
Geschichte einer Strickjacke
Es wehte ein kalter Wind, als 1990 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sich im Kaukasus mit seinem sowjetischen Amtskollegen Michail Gorbatschow traf. Eine Belastungsprobe für jedes protokolltaugliche Outfit. Denn selbst wenn der Anzug aus noch so robustem Wollstoff besteht, ist er doch nicht dafür gedacht, Wind abzuwehren. Der dicke Rollkragenpullover aber scheidet bei einem solchen Anlass natürlich aus. Nun, Kohl entschied sich für eine etwas wärmere, aber auch weniger förmliche Variante, und trug eine Strickjacke. Nun, seinen Gastgeber brüskierte er damit nicht, Gorbatschow selbst war im Pullover erschienen. Die legendäre Strickjacke, in der nichts geringeres als die deutsche Wiedervereinigung verhandelt wurde, hängt heute im Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Die heutigen Strickjacken haben mit ihren grobgestrickten Vorfahren aus der ländlichen Trachtenmode nicht mehr viel gemeinsam. Die Schnitte sind smart, die Materialien nicht mehr grobe Wolle, sondern Kaschmir oder Merino. Ist es nicht ganz so kalt, können selbst Mischgewebe mit Baumwolle und Seide eine gute Wahl sein. Modisch schmiegt sich ein Cardigan an und sieht dabei doch so locker aus, dass sie sich nirgendwo overdressed fühlen.
Die Geburt dieses inzwischen klassischen Schnittes liegt übrigens in einem sonst eher dunklen Kapitel der Menschheitsgeschichte. Der Krimkrieg im 19. Jahrhundert war ein Unglücksfall für die Region, aber ein Glücksfall für die Herrenmode, bescherte er uns doch solche Neuerungen wie den Trenchcoat, den Raglanärmel oder eben auch den Cardigan. Die kalten Temperaturen dort machten es nötig, neue Formen der Bekleidung für die eingesetzten Soldaten zu entwickeln. Benannt wurde das gute Stück nach dem Earl of Cardigan, einem britischen General. Seine größte Schlacht fand an dem ukrainischen Ort Balaklava statt, weshalb heute noch im Englischen eine Sturmhaube mit dem Namen „balaclava“ bezeichnet wird.
Gegenüber dem klassischen Pullover hat der Cardigan eine Vielzahl von Vorteilen. Er kann geöffnet werden, wenn es wärmer wird, und man kann ihn ausziehen, ohne sich die Frisur zu ruinieren oder den Hemdkragen zu verdrehen. Zudem ist er optisch deutlich näher an einem Sakko als ein Pullover und wirkt somit eleganter. Es war die Geburt des Business Casual, die der Strickjacke wieder zu neuen Ehren verhalf. Denn während ein Pullover sehr smart und edel aussehen kann, kann man die Strickjacke mit einer Krawatte kombinieren.
Gerade ein klassisch geschnittener Cardigan mit Schalkragen erreicht fast die Förmlichkeit eines Jacketts. Kombinieren Sie ihn hingegen mit einem offenen Hemd (Button-Down, wenn Sie mögen, aber zwingend ist das nicht) und einem dezent gemusterten Krawattenschal, verbreiten Sie eine Lässigkeit und Eleganz, die ihresgleichen sucht. Was Sie allerdings beim Tragen eines Cardigans ähnlich wie auch eines Pullovers tunlichst vermeiden sollten, ist das Tragen von Umschlagmanschetten und Manschettenknöpfen. Denn ein derart verbreiteter Ärmel kann unter einer Anzugjacke oder einem Sportsakko gut bestehen – die Ärmelweite ist darauf ausgelegt. Aber unter einem Strickärmel wird sich die Manschette sehr deutlich und ziemlich plump abzeichnen. Und tragen Sie niemals einen Cardigan unter einem Jackett. Was in wenig förmlicher Umgebung mit einem V-Kragen-Pullover gerade noch gutgehen kann, ist bei der Strickjacke ein sartorialer Super-GAU. Wenn Sie es denn unbedingt dennoch tun möchten, dann wählen Sie ein Modell ohne eigenen Kragen. Übrigens: ein feiner, schwarzer Rollkragenpullover sieht unter einem Cardigan auch nicht schlecht aus. Allerdings brauchen Sie etwas modischen Mut, um diese Kombination zu tragen.